2017 Kraftfeld

2017
Kraftfeld
von Martin Turck
zu den Gemälden aus Gludsted/Dänemark

Empfand man in der Romantik die Landschaft als leeren Naturraum, der zur Kultur der menschlichen Zivilisation einen deutlichen Kontrast bildete, so hat sich der Landschaftsbegriff seit dem 20. Jahrhundert weitgehend gewandelt. Er wurde von der Humangeografie und den ‚Cultural Landscape Studies‘ auf die durch menschliches Handeln kultivierten, organisierten und manipulierten Räume ausgedehnt und angewandt. Einem Impuls der Reflexion über die Wirklichkeit und ihrer Darstellung folgend, kann in den zeitgenössischen Künsten jedes Stück Welt durch die ästhetische Aneignung eine Bedeutung erlangen, die uns mit der Bildwürdigkeit abwegiger Topographien, wüster Landschaften und profaner Aktionsräume konfrontiert.

Im Sommer 2017 nahm Georg Gartz als Gastkünstler am internationalen Art Workshop in Gludsted teil, einem kleinen, ländlich geprägten Ort in Jütland, Dänemark. In landschaftlich reizarmen Gefilden des von Dörfern und Gehöften erschlossenen flachen Landes, boten dem Künstler weder Geländeformationen noch Vegetation hinreichend Inspiration, jedoch erregten die einfachen und profanen Erscheinungen der Provinz seine Aufmerksamkeit. Seine Konzentration richtete sich in der Sphäre eines Bauerngehöfts auf einen Haufen ausgemusterter Autoreifen, die zur schützenden Abdeckung der Silage verwendet werden. Malen kann man alles! – und wie das schöpferische Talent des Künstlers aus dem simplen Arrangement eindrückliche malerische Kompositionen entwickelt, zeigen die Variationen des Gegenstands in der seriellen Folge von Acrylgemälden auf Papier und Leinwand. Im Bildzentrum der in situ gemalten Papierarbeiten (Sommerbjerg, 30 x 40 cm) und gefügt in den Wirtschaftsbereich des Hofes, umgeben von Zonen der Raumtiefe und figurativen Elementen, wuchert und herrscht vor einem leuchtend gelb aufragenden Heuhaufen die Reifenmasse, deren verhaltene schwarz/grau-Farbwerte von Verfall und Auflösung des Gegenstands zu berichten scheinen. Jedoch erweist sich die Materie im weiter fortschreitenden Prozess der künstlerischen Aneignung als ornamentales Kraftfeld. Bedingt durch den Wechsel von Licht und Atmosphäre erobern zunächst zurückhaltende und allmählich überraschend leuchtende Farben die Objekte und transformieren die Strukturen aus Kreisen und Kreissegmenten in ein dynamisches Chaos. Den weiteren Fortschritt der im ‚plein-air‘ erfassten Topographien entwickelt Georg Gartz im Atelier. In Leinwandgemälden (Sommerbjerg,1-3, 40 x 50 cm; Reifen 1-4, 90 x 100 cm; Reifen 5-8, 140 x 150 cm) lösen sich Peripherie und Perspektive auf und nur angedeutet berichten horizontale Farbflächen und minimal skizzierte Formen vom landschaftlichen Umraum. Einzig die gelb aufragende Fläche als Reminiszenz an den Heuhaufen hat Bestand und dient als Fond für die wuchernde Masse sich emanzipierender Form.

Einem Schmelzvorgang ähnlich löst sich die bildliche Repräsentation auf und die lustvolle Vielfarbigkeit entmaterialisiert den Bildgegenstand. Das gesamte Gefüge abstrakter, nicht fassbarer Substanz gerät in Bewegung und befreit sich schwebend der Bodenhaftung. Georg Gartz‘ Werkserie ‚Reifen‘ beeindruckt in der Verkörperung seiner künstlerischen Idee durch grenzenlose Freiheit und ästhetischen Optimismus.