Das Eigene und das Fremde
Ein Reisebericht aus der Erinnerung an gemeinsame Gespräche vor Ort
von Ruth Gilberger
zu den Skizzen aus Marrakesch
Lieber Georg,
Sich nach Marrakesch aufzumachen und „längere Zeit vor Ort sein und schauen was ich tun kann…“ entspricht deiner vorsichtigen Offenheit und grundsätzlichen Neugier und knüpft an an die Faszination des „fremden“ Orients mit seinen Bildern, die dich schon seit deiner Jugend beeindruckt haben – ob in den künstlerischen Arbeiten Michael Buthes oder in eigenen Reisen nach Tunesien. Ausschlaggebend für deine Idee, dich auf die zweimonatige Reise zu begeben, war dann eine aktuelle Ausschreibung eines Reisestipendiums nach Marokko. Marrakesch war für dich der ideale Ort einer Vielfalt der Kulturen und Einflüsse, der für dich sowohl Anteile des Bekannten und des Fremden hatte und damit gute Voraussetzungen für dein künstlerisches Unterfangen: ging es dir dabei doch nicht um eine vordergründige Exotik als Oberfläche oder ornamentale Fassade, sondern vielmehr darum, sich mittels der Kunst (und hier wähltest du die „klassische“ Form der Reisedokumentation in Skizze und Aquarell) dem Alltag anzunähern und Kontakt aufzunehmen – in der Altstadt, der Medina direkt vor Ort auf der Straße mit den Menschen und den Dingen – durch da sein, wahrnehmen, beobachten und reagieren. Dafür war es sehr hilfreich, dass du vor Ort dir dein kleines Zimmer in einer ganz normalen Wohngegend gesucht hast – so kannten dich die Menschen, die Händler, Kinder und Anwesenden nicht als transitorischer Tourist, sondern einfach als jemand „Fremden“, der dort wohnte, in den kleinen Läden einkaufte, Pfefferminztee trank, das Treiben beobachtete und anfing zu zeichnen.
Dort deinen Platz zu finden, war deine größte Herausforderung und dies nicht im übertragenen Sinne: Menschen sitzen dort nicht einfach auf der Erde und zeichnen – die Medina ist eng, jeder hat mit der Bewältigung seines Alltags zu tun oder geht seinen Geschäften nach. Aber du warst da, als eindeutig nicht Einheimischer zu identifizieren und hast deine kleinen Skizzen gemacht, was keinen störte aber eben doppelt fremd war. Und so entstanden aus einem vorsichtigen Über-die Schulter-schauen viele dialogische Situationen. Dabei waren deine Zeichnungen sowohl Anlass wie Kommunikationsmedium (denn du sprichst kein Französisch oder Arabisch), mit einem hohen Anteil an nonverbaler Improvisation und Integration mit allen Umstehenden und dadurch dann Beteiligten. Das erstaunliche war, wie positiv, offen, empathisch und neugierig die unterschiedlichsten Zuschauenden allen Alters auf deine Arbeiten reagierten, obwohl das darauf Abgebildete häufig sehr fragmentarisch und frei war. Über das grundsätzlich Wiedererkennbare in deinen Skizzen gab es aber auch eine zeitliche Entwicklung ihrer Sujets als eine Annäherung an den Ort sozusagen von Außen nach Innen: die Medina, das Tor, die Lampen, die Wolle, Stoffe und Farben und natürlich die Menschen. Das war eine schrittweise, behutsame Annäherung, sich vor Ort vertraut zu machen. Und natürlich verwiesen die Dinge auch immer wieder auf Motive, die sonst in deinen Arbeiten auftauchen und auf bildnerische Herausforderungen, eine Balance zu finden zwischen Figuration, Ornament und Abstraktion oder zwischen Oberfläche, Form und Linie und natürlich – zwischen dem Eigenen und dem Fremden. In diesem Prozess hast du dort etwas ganz Essentielles gefunden: dein Gefühl, dem Leben, oder einer Direktheit des Lebens ganz nahe zu sein. Mit dem Kauf deines kleinen beigen Plastikhockers in der Medina konntest du dann deinen Platz einnehmen, von dem aus du in deiner ganz eigenen Weise Teil geworden bist in der Medina und ein vertrauter Anblick warst für die Menschen, die dich anfingen zu grüßen und dich Teil haben ließen an ihrem Alltag, und du ihn in deinen Zeichnungen gespiegelt hast (und manchmal auch zurückgegeben).
Nach deiner Rückkehr erschien dir der Alltag hier in einer anderen Perspektive und du hast dir die Zeit genommen, die du brauchtest, wieder anzukommen und dich mit den vielfältigen Eindrücken und Erfahrungen auseinanderzusetzen – mit den Arbeiten, die du mitgenommen hast, in den Arbeiten, die dann im Anschluss entstanden sind und die entstehen werden und nicht zuletzt mit dir selbst.
Dein Gefühl, den Dingen und der Welt nahe gekommen zu sein, heißt auch, sich selbst nahe gekommen zu sein. So hat die Reise für dich eine ursprüngliche Qualität erhalten: Nicht Reisen, um sich fortzubewegen sondern Reisen, um zu sich selbst zu kommen – ganz nah zu sich und den Dingen – den fremden und den eigenen. Dein Gefühl, dort gut aufgehoben gewesen zu sein, zeugt auch von deinem Vertrauen und deiner Neugier in dich und in Welt und in die Kunst, das Unsichtbare sichtbar zu machen und das Sichtbare sichtbarer. Und ich bin mir sicher – deine Reise in diesem Jahr ist erst der Anfang.