Kapelle Text

Georg Gartz: Kapelle

Raumbezogene Installation im ehemaligen Wartesaal der Kunststation Delden (NL)
16.07.-01.09.2023

Text: Sabine Klement | Köln 2023

Das Herzstück von Georg Gartz‘ Installation ‚Kapelle‘ im ehemaligen Wartesaal des Deldener Bahnhofsgebäudes ist eine postmodern anmutende Figur-Skulptur, die – so wandelbar wie autonom –Anbetungsgegenstand und Pilgerperson in Einem ist. Ihre Mitte, eine erhöht auf einem verhüllten dreibeinigen Hocker zur unmittelbaren Betrachtung dargebotene bodenlose Kiste, ist offen, durchlässig und leer. Wer den Andachtsort aufsucht, mag sein persönliches Allerheiligstes hier hineinsetzen oder -projizieren und sich auf dem angebotenen kleinen Gebetsschemel niederlassen, um in Kontemplation zu versinken. Ein geschlossenes, undurchsichtiges Gefäß obenauf bildet den dekorativen Abschluss der Skulptur. Es ist dies auch der Kopf der anthropomorphen Figur, einer unbestimmten Person, die die Kapelle aufsucht. Welchem Glauben sie anhängt, ob sie einer Göttin huldigt, erfahren Betrachter:innen nicht. Die Umstände rufen den Eindruck wach, sie sei eine Nomadin, gekommen, um weiterzuziehen.

Das Inventar der Gartzschen Kapelle ist profan. Der Holzhocker und der über ihn herabfließende Plisseerock: used look. Die zentral platzierte hochrechteckige Holzkiste von kaum 20 cm Tiefe ist schmucklos. Nach dem Prinzip der ‚Bremer Stadtmusikanten‘ zuoberst eine vierte Komponente – aber hier kein Hahn (auch die Hühner aus Robert Rauschenbergs ‚Combines‘ grüßen als visuelle Assoziation aus der Tiefe des kunsthistorischen Raumes), sondern ein kleiner Bastkorb mit Deckel, afrikanischen Ursprungs in lebhaften Farben. Vielleicht war er ursprünglich zur Aufbewahrung von Brot gedacht? Ein gedanklicher Anknüpfungspunkt hierzu ist das in Kirchen im verschlossenen Allerheiligsten, dem Tabernakel, aufbewahrte eucharistische Brot, das nach christlicher Vorstellung der Leib Christi ist.

Der Raum wird definiert durch Textilien, die Georg Gartz über Jahre hinweg auf diversen Reisen und Kontinenten gesammelt hat. Wände und Decke bildet ein glatt-fließender leichter Futterstoff aus Marrakesch, den Boden ein unregelmäßiges Muster sich überlagernder Stoffe verschiedener Größen und Texturen. Es sind Vintage-Stoffe, Sedimente des Alltäglichen, ein Wandteppich zeigt die Stadtansicht von Monastir in Tunesien. Sie rufen die visuelle Erinnerung an muslimische Gebetsteppiche wach, die einen portablen, jederzeit verfügbaren sauberen Andachtsraum bieten. Auch Georg Gartz‘ Kapelle wirkt provisorisch, mobil und wandelbar; sie erhebt keinen weltanschaulichen Herrschaftsanspruch. Feierlichen Glanz verleihen ihr die dominierenden goldgelben Farbnuancen. Gelb, als hellste der Grundfarben, erinnert an die Sonne und steht in vielen Kulturen für das Schöne, Heilige, Göttliche und die Ewigkeit. In dieses Lichtes taucht Georg Gartz – insbesondere durch die Semiopazität der ‚Wände‘ – seinen Andachtsraum und übergießt, ja überhöht dessen reduzierte Ausstattung mit dem Ausdruck von Energie und Lebensfreude.

Unter den satten, goldgelben Nuancen strahlt zitronig hell und verheißungsvoll der gefältelte Rock hervor, der wie ein Lampenschirm oder ein Zelt über dem Dreibein hängt. Georg Gartz spielt mit Varianten des Ver- und Enthüllens und setzt seine Installation in ein Spannungsverhältnis zu in sakralen Räumen eingeübten Sehkonventionen. Die vakante liturgische Mitte (Holzkiste) und zwei flankierende Geheimnisräume (Gefäß und Rock) lassen der Vorstellungskraft der Betrachter:innen gleich dreifache Freiheit. Was einerseits die Fantasie anregt, mag andererseits durch Unbestimmtheit irritieren.

Georg Gartz gibt seinem Werk, das durch die beiden großen Fenster des Gebäudes betrachtet eine zweite Schauseite hat, einen Nebenraum. Er kreiert ihn, indem er einen altmodischen fünfarmigen Kerzenleuchter aus – auf das Farbkonzept einzahlendem – goldfarbenem Messing auf der rückwärtigen Seite des Vorhangs in dysfunktionaler Hüfthöhe von der Decke hängen lässt. Mit dieser an Robert Rauschenberg anknüpfenden Setzung ‚beleuchtet‘ Gartz das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und realem Leben: Trifft zu, dass das in ein Werk integrierte Alltagsobjekt, die Kunst wirkungsvoller im Bewusstsein der Betrachter:innen verankert, als es ‚reine Kunst‘ je vermöchte?

Georg Gartz öffnet die Grenzen seiner ‚Kapelle‘ und bietet auch jenen, die es vorziehen, außerhalb jedes spirituellen Angebotes zu stehen, einen eigenen Reflexions- und Resonanzraum an.